Michael Faraday (1791-1867) gilt als der hervorragende Experimentator seiner Zeit. Durch seine Experimente hat er bedeutsame Beziehungen zwischen den elektrischen und magnetischen Erscheinungen praktisch erkannt und formuliert. Faraday wird gelegentlich in etwas überschwenglicher Art als Totengräber der klassischen Elektrizitätslehre und Begründer der modernen physikalischen Auffassungen bezeichnet. Was hat Faraday eigentlich selbst gewollt, und was haben seine Nachfolger daraus gemacht?
Für die Zeit, in der Faraday lebte und wirkte, ist charakteristisch:
Viele elektrische und magnetische Erscheinungen sind bereits entdeckt; zu deren möglichen Ursachen und Zusammenhängen gibt es sehr wirre und widersprüchliche naturphilosophische Deutungen. Es gibt zwei Lichttheorien, die sich grundlegend widersprechen: Newtons Emissionstheorie, die den Raum als leer und das Licht als Strom kleinster Teilchen ansieht und die Äthertheorie, die den Raum als mit feinstem Stoff erfüllt betrachtet. Die sich entwickelnde Industrie erwartet von den Naturforschern anwendbare Lösungen. Die Frage nach der praktischen Anwendbarkeit von theoretischen Auffassungen drängt sich zunehmend in den Vordergrund.
Faradays Forschungsergebnisse sind unumstritten, sie fanden und finden stets höchste Anerkennung und praktische Anwendung. Seine größten Entdeckungen waren die elektromagnetische Induktion und die gegenseitige Wirbelverkopplung der elektrischen und magnetischen Vorgänge.
Und Faraday hat einen sehr nützlichen, methodischen Schritt getan: Er hat den Begriff des elektrischen und magnetischen Feldes als Modellvorstellung in die Wissenschaft eingeführt und durch Kraftlinien veranschaulicht. Hier scheiden sich bereits die Geister. Ein anderer Geist hätte an dieser Stelle z.B. formuliert: Faraday hat mit der Einführung des Feldbegriffs einen höchst wissenschaftstheoretischen Beitrag zur Herausbildung einer neuen, stofflosen Kategorie der Materie und zur Entwicklung des modernen physikalischen Denkens geleistet.
Zwei prinzipiell gegensätzliche Grundhaltungen zum Feldbegriff lassen sich seit Faraday erkennen:
Das Feld als Modellvorstellung (Hilfsvorstellung) zur effektiven, zweckmäßigen Erklärung, Beschreibung und Ausnutzung der physikalischen Erscheinungen.
Das Feld als eigenständige, nicht weiter reduzierbare physikalische Realität.
Zwischen beiden Grundhaltungen besteht ein gewaltiger Unterschied: Die Vertreter der ersten Gruppe sind der Meinung, daß es hinter den äußeren Erscheinungen noch unerkannte Ursachen gibt, während die Vertreter der zweiten Gruppe definitiv behaupten, hinter den äußeren Erscheinungen, die nun einen neuen Namen (Feld) erhalten haben, gäbe es nichts mehr zu suchen, zu erforschen und zu erklären. Wir sagten schon an anderer Stelle und wiederholen: Letzteres ist unwissenschaftlicher Umgang mit wissenschaftlichen Modellen, und der behindert das Erkennen der physikalischen Wahrheit (2).
Faraday selbst war ein Vertreter der Äthertheoríe und verstand seine Kraftlinien, entgegen allen anders klingenden Behauptungen, stets als Hilfsvorstellung. Er räumte die Möglichkeit ein, daß die von ihm gedachten Kraftlinien besondere Zustände des Äthers seien. Er hat also mit der Einführung seines Feldbegriffs nicht auf eine latente Materie verzichtet, sondern diese in Form des Äthers anerkannt. Im Gegensatz zu der damals noch verbreiteten Ansicht, daß die elektrischen und magnetischen Kräfte zwischen den beteiligten Körpern unmittelbar durch den stofflich leeren Raum hindurch als Fernkräfte wirkten, hat Faraday dem stofferfüllten Raum eine entscheidende Rolle zugesprochen und die Kräfte als Wechselwirkung der Körper mit den Kraftlinien des Äthers auf mittelbare Nahwirkung zurückgeführt.
Deutlicher und überzeugender als Heinrich Hertz kann man Faradays Denken und Anliegen kaum ausdrücken:
"Faraday wurde gelehrt, daß die Kräfte den Raum einfach übersprängen; aber er sah, daß es von größtem Einflüsse auf die Kräfte war, mit welchem Stoff der angeblich übersprungene Raum erfüllt war... Die Kraftlinien, wie er die selbständig gedachten Kräfte nannte, standen vor seinem geistigen Auge im Raume als Zustand desselben, als Spannungen, als Wirbel, als Strömungen, als was auch immer -das vermochte er selbst nicht anzugeben- aber da standen sie, beeinflußten einander, schoben und drängten die Körper hin und her und breiteten sich aus, von Punkt zu Punkt einander die Erregung mitteilend. Auf den Einwand, wie denn im leeren Raume andere Zustände als vollkommene Ruhe möglich seien, konnte er antworten: Ist denn der Raum leer? Zwingt uns nicht schon das Licht, ihn als erfüllt zu denken? Könnte nicht der Äther, welcher die Wellen des Lichtes leitet, auch fähig sein, Änderungen aufzunehmen, welche wir als elektrische und magnetische Kräfte bezeichnen? Wäre nicht sogar ein Zusammenhang zwischen diesen Änderungen und jenen Wellen denkbar? Könnten nicht die Wellen des Lichtes etwas wie Erzitterung solcher Kraftlinien sein?" <29>
Darf man diese durch Heinrich Hertz am Ende des 19. Jahrhunderts geäußerten Gedanken achtlos überhören und verwerfen?
Im Lager der anderen Grundhaltung gibt es solche Logik nicht. Dort beruft man sich meist sachlich leise auf das Experiment, auf die objektive Realität dieser Erscheinungen, die noch immer als höchstes Kriterium der Wahrheit gilt, und die ohnehin niemand bezweifelt (3.1).
Oder man überspielt seine inneren Zweifel durch lautstarke Darstellungen mit unverkennbar euphorischem Einschlag:
"Der Newtonsche Raum war der passive Aufenthaltsraum von Körpern und Ladungen. Der Raum Faradays dagegen war das Zentrum der Erscheinungen, die Quelle und der Überträger von Kräften, die auf Körper und Ladungen wirken. Und nun folgte der für die Erforschung und Unterwerfung des Lichtes in der ganzen bisherigen Wissenschaftsgeschichte wichtigste Schritt: ein von Kraftlinien durchzogener Raum macht den Begriff des Äthers überflüssig. Überflüssig! Man kann sich vorstellen, daß das Licht nichts anderes ist als ein Vibrieren von Kraftlinien."
(Ein namhafter Verfasser; es geht hier aber nur um die exemplarische Grundaussage).
In den Strömungskanälen für Luft- und Wasserprofile und in der Wetterkunde bedient man sich z.B. auch erfolgreich des Feldbegriffs sowie der Strömungs- und Kraftlinien. Könnte man dort nicht auch gleich auf das Medium verzichten?
Im Sinne des Umgangs mit einem wissenschaftlichen Modell (2) sei an dieser Stelle nochmals hervorgehoben:
Es geht in der Naturwissenschaft entweder darum, die reale Welt möglichst vollständig zu erkennen oder ihr Abbild möglichst einfach zu beschreiben und die physikalischen Erscheinungen und Gesetze unkompliziert auszunutzen und anzuwenden. Will man ersteres, dann darf dem Erkenntnisprozeß keine Grenze gesetzt werden, dann darf der Weg zur vermeintlichen Wahrheit nicht durch starre Definitionen verbaut und verboten werden. Will man letzteres, dann kann man sich mit der Erscheinung begnügen und zweckmäßig so tun, als hätte die Erscheinung gar keine tiefere Ursache. In diesem Falle heißt das, man könnte zweckmäßig so tun, als ob es keine latente Materie, keinen Äther, gäbe.
So wollen wir Michael Faraday verstehen. Das Motiv für die unwissenschaftliche Verselbständigung des Feldbegriffes, für die Loslösung der Erscheinung von ihrer Ursache, werden wir woanders suchen - und finden. Michael Faraday ist an der "Verselbständigung des Feldbegriffs" völlig unschuldig.
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