Spur eines Jahrhundertirrtums

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<< (4.7) "Wechselwirkungsprinzip" und "Wechselwirkungssystem"
>> (4.9) Der zweiseitige Ruhm des Michael Faraday

4.8 Sie bauen am Fundament - und wissen nicht, was sie tun

Den eigentlichen Beginn des "elektromagnetischen" Denkens vermag heute niemand genau anzugeben. Es steht nur fest, daß wir, die Modernen, trotz allen Wissens und Könnens, die Anfangshürden zwar übersprungen, aber noch nicht beiseite geräumt haben. Obwohl elektrische und magnetische Erscheinungen schon seit der Antike bekannt sind, so z.B. die Kraftwirkung zwischen geriebenen Körpern (statische Aufladungen), die Nutzung der magnetischen Kraftwirkung (Kompaßnadel) u.a., begannen systematische Untersuchungen erst im 16. Jahrhundert.

Man empfinde die Situation: Die elektromagnetischen Erscheinungen haben äußerlich nichts Greifbares. Meßgeräte gab es nicht, deren Prinzipien mußten erst noch erkannt werden. Der Begriff " Elektron" wurde erst ganz am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt. Was verbirgt sich hinter den Erscheinungen, und wie sind sie nutzbar?

William Gilbert (1544-1603) hielt die elektrische Ladung der Körper für ein "Fluidum", etwas Einfließendes. Die magnetische Wirkung eines Dauermagneten und der Erde betrachtete er als ausströmendes Fluidum.

Otto von Guericke (1603-1684) folgerte, daß die elektrische Anziehung bzw. Abstoßung von den gleichen Kräften komme, welche die Erdanziehung bewirken und den Lauf der Planeten bestimmen; es müsse also eine einzige, überall wirksame "tragende Kraft" geben.

Robert Boyle (1627-1691), Isaac Newton (1643-1727) und der englische Physiker Stephan Gray (1670-1736) hielten die Elektrizität für ein Fluidum.

Der Franzose Charles Dufay (1698-1737) sprach als erster von zwei Arten der Elektrizität. Es müsse zwei verschiedene Elektrizitäten geben, die sich wie Pole eines Magneten verhielten: gleiche stoßen einander ab, verschiedene ziehen einander an. Er nannte seine zwei verschiedenen Arten von Fluidum "Glaselektrizität" und "Harzelektrizität".

Benjamin Franklin (1706-1790), Erfinder des Blitzableiters, war ein Vertreter des Einfluidumdenkens. Er meinte, ein Körper, der mit dem elektrischen Fluidum gerade ausgefüllt sei, wirke elektrisch neutral. Ein Überschuß an Fluidum mache ihn "plus", ein Mangel "minus" elektrisch. Eine Gewitterwolke sei plus und die Erde minus elektrisch; die Wolke sei also geladen und bereit, ihren Überschuß an die Erde abzugeben. Die elektrische Materie bestehe aus äußerst feinen Partikeln, denn sie könne die gewöhnliche Materie durchdringen, sogar die dichtesten Metalle, und zwar so leicht und ungehindert, daß man keinen fühlbaren Widerstand nachweisen kann.

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) entdeckte die nach ihm benannten Figuren. Bei seinen Versuchen mit elektrischen Ladungen fand er strahlenförmige "Sonnen" aus positiver und ringförmige "Möndchen" aus negativer Ladung. Darin sah er einen Beweis für das Vorhandensein zweier verschiedener Fluida und nannte die pluselektrischen positiv, die anderen negativ.

Charles-Augustin Coulomb (1736-1806) baute das erste Elektrometer. Er fand mit seiner Drehwaage das nach ihm benannte Coulomb'sche Gesetz: Der Betrag der Kraft zwischen zwei Punktladungen Q1 und Q2 ist den Ladungen direkt, dem Quadrat ihres Abstandes umgeehrt proportional:

Luigi Galvani (1737-1798) entdeckte im Froschschenkelversuch Erscheinungen, die er auf elektrische Vorgänge im tierischen Körper zurückführte und stand mit anderen Forschern zu der Verallgemeinerung: Alle Muskelbewegungen zeigen elektrische Erscheinungen, und alle Lebewesen haben eine spezielle Art der festgestellten "tierischen Elektrizität". Er vertrat sogar die Meinung, die Elektrizität sei die Ursache aller Lebenserscheinungen. Verschiedene Gelehrte, darunter auch Alexander von Humboldt, stimmten ihm zu.

Es gab weiteren Anlaß, elektrische und biologische Erscheinungen in Verbindung zu bringen. 1773 fand Walsh bei der Zerlegung eines Zitterrochens ein elektrisches Organ aus über tausend winzigen, organischen galvanischen Elementen. John Hunter entdeckte im selben Jahr eine noch stärkere "Batterie" in einem Zitteraal, die etwa ein Drittel von dessen Körpergewicht ausmachte.

Alessandro Volta (1745-1827) drückte Galvanis Theorie etwa so aus: Nerven und Muskeln enthalten stets Elektrizität, befinden sich aber im Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht würde durch Berühren mit Metall gestört und danach durch eine Entladung wieder hergestellt. Volta glaubte ebenfalls an den besonderen Stoff, das strömende elektrische Fluidum. Mit seinen Entdeckungen und Experimenten legte er einen bedeutenden Grundstein für die Elektrodynamik. Ihm verdanken wir die "Volta'sche Spannungsreihe" und das Galvanische Element. Er prägte die Begriffe Spannung, Strom und Kapazität.

Hans Christian Oersted (1777-1851) wies die magnetische Wirkung des elektrischen Stromes durch die abgelenkte Magnetnadel um einen stromdurchflossenen Leiter nach.

Georg Simon Ohm (1787-1854) and 1826 das nach ihm benannte Gesetz, den Zusammenhang zwischen Spannung, Strom und Widerstand.

André Marie Ampère, (1775-1836), führte die Arbeiten Oersteds erfolgreich weiter. Seine wichtigste Entdeckung war das Magnetfeld einer stromdurchflossenen Spule, der Elektromagnet. Den Erdmagnetismus führte Ampère auf viele in sich geschlossene elektrische Ströme im Innern der Erde zurück, die so zusammenwirkten wie ein großer, von Ost nach West um die ganze Erde fließender Strom. Verallgemeinernd faßte Ampère grundsätzlich den elektrischen Strom, einschließlich der Molekularströme, als Ursache aller magnetischen Erscheinungen auf.

Jean Baptiste Biot (1774-1862) und Felix Savart (1791-1841) entdeckten und formulierten das nach ihnen benannte "Gesetz von Biot-Savart", mit dem man exakt berechnen kann, welchen Anteil an magnetischer Feldstärke eine bewegte Ladung in jedem Punkte ihrer Umgebung bewirkt. (!) Bemerkenswert ist die auffallende Übereinstimmung mit einem ebenfalls von Biot und Savart gefundenen Wirbelgesetz für die Strömungslehre, das den Zusammenhang zwischen einem Wirbelfaden und seinem induzierten Geschwindigkeitsfeld ausdrückt. Siehe auch II(3.8).

Franz Maria Ulrich Theodor Äpinus (1724-1802) äußerte den beachtenswerten Standpunkt: "Wir sehen, daß die Ähnlichkeit der elektrischen mit den magnetischen Erscheinungen so groß ist, daß sie fast nicht größer sein kann. Was hindert uns also, nicht auch ähnliche Ursachen beider Kräfte anzunehmen, da es doch wahrscheinlich ist, daß die Natur ähnliche Erscheinungen auf ähnliche Weise hervorbringt?" <14>

Wichtige Stützen heutigen Wissens wurden also schon früh erkannt und haben noch immer ihre volle Gültigkeit. Und dennoch: Obwohl man heute mit den Begriffen erfolgreich operiert, haben wir keine eindeutige Vorstellung vom physikalischen Hintergrund der Begriffe Ladung, Strom, Spannung, elektrische und magnetische Feldstärke. Gelegentlich sucht man Analogien zu strömenden Flüssigkeiten, aber das ist ja eigentlich gar nicht erlaubt. Niemand kann erklären, wodurch eine bewegte elektrische Ladung um sich eine gerichtete magnetische Wirkung erzeugt. Eine Denkrichtung zu den Hintergründen der elektromagnetischen der Erscheinungen ist in II (3.8) zusammenhängend dargestellt

Man möchte an dieser Stelle auch auf die herausragenden, grundlegenden Forschungsergebnisse eines Michael Faraday (1791-1867) verweisen. An ihm scheiden sich die Geister zweier physikalischer Grundhaltungen, deshalb soll sein Beitrag zum physikalischen Weltbild anschließend in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.


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