Spur eines Jahrhundertirrtums

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<< (4.6) Das undefinierbare "lnertialsystem" und die Ursache der Trägheit
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4.7 "Wechselwirkungsprinzip" und "Wechselwirkungssystem"

Der Zusammenhang Inertialsystem/Trägheitsursache verdient noch eine verallgemeinernde Zusatzbetrachtung, denn der bis heute gepflegte Umgang mit den Bezugssystemen erweckt mitunter den Anschein einer naturwissenschaftlichen Schildbürgerei.

Es ist seit alter Zeit selbstverständlich, daß jede Bewegung nur als relative Bewegung gedacht und verstanden werden kann. Darüber gab und gibt es überhaupt keine Mißverständnisse. Die Relativität der Bewegung wurde nicht von Albert Einstein entdeckt. Wenn es nur um den relativen Bewegungsablauf geht, steht jedem Beobachter in jedem beliebigen Bezugssystem die uneingeschränkte Behauptung zu, daß sich das andere Bezugssystem ihm gegenüber bewegt. Das ist reine Ansichtssache.

Aus der Sicht der Erdbewohner dreht sich die Sonne um die Erde. Wenn wir sagen "die Sonne geht unter", so ist diese Ansicht einfach zweckmäßiger, als wenn wir sagen "die Erde hat sich bezüglich der Fixsterne so weit um die eigene Achse und um die Sonne bewegt, daß wir nun hinter dem Horizont verschwinden". Zu anderen Zwecken begeben wir uns gedanklich auf einen Standpunkt außerhalb des Sonnensystems und beobachten die Rotation der Erde und der anderen Planeten um sich selbst und um die Sonne. Doch durch diese oder jene Betrachtungsweise ändern wir nicht das geringste an den Vorgängen, die sich auf der Sonne abspielen. Von der Ansicht eines Beobachters hängt das physikalische Geschehen in dem beobachteten Bezugssystem nicht ab.

Verhängnisvoll wird der Umgang mit den Bezugssystemen erst, wenn das Wirken "der Naturgesetze" im beobachteten Bezugssystem von der Bewegung abhängig gemacht wird, die zwei beliebig wählbare Bezugssysteme zueinander haben. Dadurch wird der Eindruck erweckt, es hinge das Wirken "der Naturgesetze" vom Standpunkt des Beobachters ab und sei eine manipulierbare Ansichtssache.

"Wechselwirkungsprinzip": Das Wirken jedes Naturvorganges bzw. Naturgesetzes ist an sehr konkrete örtliche Wirkungsbedingungen gebunden. Es ist direkte materielle (stoffliche) Wechselwirkung eines Körpers oder Teilchens mit seiner hautnahen Umgebung. Folglich läßt sich das Wirken der Naturgesetze besonders anschaulich und einfach erfassen und formulieren, wenn die stofflichen Strukturen, die im jeweiligen Naturgesetz vorrangig miteinander wechselwirken, auch als Bezugssystem betrachtet werden. Dieses System verdient dann die Bezeichnung "bevorzugtes Bezugssystem" oder "Wechselwirkungssystem".

Man beachte den Unterschied: Als bevorzugtes System betrachtete Newton den absoluten Raum im Sinne übergeordneter Orientierung und Wirkung. Als bevorzugte Bezugssysteme werden mitunter die "Inertialsysteme" angesehen im Sinne von "durch die Natur mit bevorzugten Eigenschaften versehen". Das Inertialsystem zeigt das "bevorzugte" Verhalten. Es zeigt dieses Verhalten aber nicht durch die ihm zudefinierten Bewegungseigenschaften, die hat es nämlich gar nicht, sondern durch ein bisher unerkanntes Wirkungsprinzip. Bevorzugt in unserem Sinne bedeutet: vorteilhaft anwendbar zur Erfassung der jeweiligen Wechselwirkung.

Zwei Aspekte sind grundsätzlich beim Umgang mit den Bezugssystemen zu unterscheiden:

Verdeutlichen wir uns eine ernsthafte "Scherzaufgabe": Unser Sonnensystem bewegt sich mit der Geschwindigkeit 250 km/s um das Zentrum der Galaxis (aus der Sicht der fernen Massen). Die Bahngeschwindigkeit der Erde um die Sonne aus der Sicht eines Bezugsystems, das im (rotierenden) Sonnenmittelpunkt ruhend gedacht ist, beträgt 30 km/s. Die Erde rotiert außerdem um sich selbst und hat dabei am Äquator eine Umfangsgeschwindigkeit von etwa 0,5 km/s. In einer Höhe von 2000 m über der Erdoberfläche und 30deg. nördlicher Breite bewege sich eine Luftströmung mit einer Geschwindigkeit von 30 m/s von West nach Ost (aus der Sicht eines erdfesten Beobachters). In gleicher Höhe (2000 m) bewege sich ein Flugzeug auf Westkurs mit einer Geschwindigkeit von 1300 km/h (aus der Sicht eines Ballons, der in der Luftströmung "schwimmt").

Hieraus ließen sich gewiß sehr interessante und komplizierte mathematische Aufgaben zur Aufstellung der Bewegungsgleichung des Flugzeuges aus der Sicht der Beobachter in den einzelnen Bezugssystemen formulieren, um daraus (un)möglicherweise die Flugeigenschaften des Flugzeuges zu erkennen und zu berechnen. Aber hängen die Flugeigenschaften eines irdischen Flugzeuges von dessen Bewegungsart gegenüber einem weit entfernten Stern ab?

Wir wollen es kurz fassen: Unabhängig von allen denkbaren Betrachtungsweisen werden die Flugeigenschaften des Flugzeuges von seiner Relativgeschwindigkeit gegenüber der Luft, der Luftdichte und seinen aerodynamischen Merkmalen bestimmt. Zur Erzeugung der Auftriebskräfte an den Tragflächen und der Steuerkräfte an den Ruderorganen ist die Luft das bevorzugte Bezugsystem, das Wechselwirkungssystem. Für diese Wechselwirkung ist es völlig unbedeutend, welche Bewegungsart das Flugzeug gegenüber den anderen Bezugssystemen ausführt.

Bei plötzlichen Erschütterungen des Flugzeuges wird eine zusätzliche Wechselwirkung mit der örtlichen latenten Materie wirksam, (Trägheit). Jedes physikalische Wirkungsprinzip hat sein eigenes bevorzugtes Bezugssystem, sein Wechselwirkungssystem.

Einstein benutzte, um die "Gleichwertigkeit der Bezugssysteme" für das Wirken der Naturgesetze zu erläutern, einen Eisenbahnwagen, der gegenüber dem Bahndamm bewegt wird: "Im Falle der Bevorzugung eines Bezugssystems müßten für das Wirken der Naturgesetze Größe und Richtung der Fahrgeschwindigkeit des Wagens eine Rolle spielen."

Und ohne Angabe konkreter Versuchs- und Umweltbedingungen, z.B. ob hier ein offener oder geschlossener Wagen betrachtet wird, heißt es weiter: "Es wäre z.B. zu erwarten, daß der Ton einer Orgelpfeife ein anderer wäre, wenn diese mit ihrer Achse parallel zur Fahrtrichtung gestellt wird, als wenn sie mit ihrer Achse senkrecht zu dieser Richtung gestellt wird. Nun ist aber unsere Erde wegen ihrer Bahnbewegung um die Sonne einem mit etwa 30 km in der Sekunde Geschwindigkeit fahrenden Wagen vergleichbar. Es wäre daher im Falle der Ungültigkeit des Relativitätsprinzips zu erwarten, daß die momentane Bewegungsrichtung der Erde in die Naturgesetze eingehe, daß also die physikalischen Systeme in ihrem Verhalten von der räumlichen Orientierung gegen die Erde abhängen sollten." <20>

Für das Wirken des Schallgesetzes, das den Ton einer Orgelpfeife bestimmt, ist eine Relativgeschwindigkeit zwischen den beiden stofflichen Strukturen Luft und Orgelpfeife erforderlich. Dabei ist es wohl völlig belanglos, welche Geschwindigkeit der Wagen gegen den Bahndamm oder die Fixsterne hat. Die Orgelpfeife gibt, wie jeder weiß, auch einen Ton von sich, wenn z.B. der Wagen steht und sich die Luft gegenüber dem Bahndamm bewegt. Dieses Beispiel mit der Orgelpfeife mag durch Einstein nicht sehr glücklich gewählt worden sein. Es zeigt aber sehr typisch das Bestreben, das Wirken von Naturgesetzen, ohne Beachtung der konkreten örtlichen Wirkungsbedingungen, mit der Bewegung inkompetenter Bezugssysteme in Verbindung zu bringen.


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