Wir erkennen, daß jegliches physikalische Geschehen untrennbar mit dem Raum, seinem Inhalt und "seinen" Wirkungen verbunden ist. Die Fragen nach der Beschaffenheit des Raumes bewegten seit alter Zeit die Philosophen und Naturwissenschaftler: Ist der Raum nun stofferfüllt oder stofflich leer? Ist ein leerer Raum überhaupt denkbar und physikalisch möglich? Wirkt der Raum allein durch seine bloße Existenz oder durch seinen Inhalt? Wirkt er durch die Ruhe oder die Bewegung seines Inhalts? Kann die Übertragung von Kräften nur auf Nahwirkung beruhen, oder sind Fernwirkungen zwischen den räumlich fernen Körpern denkbar und physikalisch sinnvoll? Wodurch könnten Fernwirkungen, so es sie gibt, zwischen den Körpern übertragen werden? Wirken ferne Körper augenblicklich aufeinander ein, oder hat die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Wirkungen einen endlichen Wert?
Viele Fragen, viele Meinungen. Viele Antworten, viele Irrungen?:
"Es ist schon eine harte Zumutung", schreibt Albert Einstein, "daß man dem Raum überhaupt physikalische Realität zuschreiben soll, insbesondere dem leeren Raume. Die Philosophen haben seit den ältesten Zeiten immer wieder gegen eine solche Zumutung sich gesträubt."
Renè Descartes (1596-1650) glaubte, wie viele Forscher des Altertums, nur an eine Kraftübertragung durch unmittelbaren Kontakt. Er negierte die Möglichkeit jeglicher Fernwirkung und ging davon aus, daß alle Wirkung direkt durch Druck oder Stoß übertragen wird. Descartes hatte der Materie "seIbstschöpferische" Kraft verliehen, mit anderen Worten: er suchte die Wirkungen in der Bewegung der Materie. Ein Vakuum, ein stofflich leerer Weltraum, war für Descartes unvorstellbar. Um die Wissenschaft von der mystischen Fernwirkung zu befreien, bediente er sich des Äthers, eines fiktiven feinsten Stoffes, der den Raum ausfüllen sollte.
Otto von Guericke (1602-1686) befaßte sich ebenfalls mit der Frage, ob der Weltraum von feinstem Stoff angefüllt sei, oder ob es dort das umstrittene Vakuum doch gäbe. In seinem berühmten Experiment hatte er mit Hilfe einer Luftpumpe ein Vakuum hergestellt. Er schrieb über seine Versuche und Erkenntnisse 1672 ein Buch: "Die neuen Magdeburger Experimente mit dem leeren Raum." Die Begriffe "Vakuum" und "leerer Raum" sollte man überlegter wählen. Guericke hatte einen " luftverdünnten" Raum hergestellt. Er hatte keinen luftleeren und schon gar nicht einen "leeren" Raum erzeugt. Ist denn ein luftleerer Raum bereits ein leerer Raum? Zumindest wäre eine solche Behauptung voreilig und unwissenschaftlich.
Der Gedanke mit einer Luftpumpe einen stofflich leeren Raum erzeugen zu können, dürfte ein fundamentaler wissenschaftlicher Irrtum sein; er hat sich, durch Einstein "geheiligt", bis heute erhalten. Hier steht man wieder vor der durch Menschen definierten und errichteten Tabuzone: Im luftleeren Raum sind keine stofflichen Vorgänge mehr zu erforschen.
Auch Torricelli (1608-1647) war überzeugt, daß er in seiner berühmten Versuchsanordnung, dem Vorgänger des Barometers, einen leeren Raum, die sogenannte "Torricellische Leere", erzeugt hatte.
Blaise Pascal (1623-1662) äußerte zum Versuch von Torricelli: "Eher erträgt die Natur ihren Untergang, als den kleinsten leeren Raum."
Isaac Newton (1643-1727) setzte sich über die Sorgen seiner Vorgänger und Zeitgenossen hinweg. Mit ihm verschwand vorerst die Frage nach dem möglichen feinsten Stoff, dem Äther, der alle Körper durchdringen sollte. Für Newton war der absolute, ruhende, stofflich leere Raum der Hintergrund, gewissermaßen der Rahmen allen physikalischen Geschehens. Die Schwerkraft war für ihn eine sich unendlich schnell übertragende Fernwirkung. Dabei blieb unverständlich und unerklärt, wie die durch den leeren Raum getrennten Körper ohne jeglichen Vermittler aufeinander einwirken sollen.
Zu Zeiten Newtons drängte sich die Frage nach den gleichberechtigten und bevorzugten Bezugssystemen verstärkt in die Deutung der Naturvorgänge. Newton sah "seinen" "absoluten Raum" als das bevorzugte Bezugssystem an. Und dieser Gedanke hat durchaus eine gewisse Daseinsberechtigung. Die in einem beschleunigten System auftretenden Trägheitskräfte beweisen uns täglich, daß es keine Ansichtssache ist, welches System man gegenüber welchem anderen als beschleunigt betrachten darf.
Wenn sich ein Fahrzeug mit zunehmender Geschwindigkeit auf ein stillstehendes Fahrzeug zubewegt, haben beide die gleiche Beschleunigung zueinander, und jedes Fahrzeug könnte theoretisch gleichberechtigt als Bezugssystem betrachtet werden, obwohl die Insassen des stillstehenden Fahrzeuges von "ihrer" Beschleunigung nichts verspüren.
Eine plausible Ursache für das Auftreten der Trägheitskräfte konnte Newton im "leeren" Raum nicht entdecken. Folglich "mußte" die Ursache der Trägheit der Körper dem absoluten Raum selbst "zugeschrieben" werden oder aber mit der Bewegung der Körper gegenüber dem absoluten Raum in Verbindung gebracht werden. Damit ist nach Newtons Auffassung der absolute Raum als bevorzugtes Bezugssystem "bewiesen".
Besonders deutlich treten die Trägheitskräfte in rotierenden Bezugssystemen in Form der Fliehkräfte auf. Verwiesen sei auf den von Newton beschriebenen "Eimerversuch": Ein mit Wasser gefüllter Eimer wird, an einem Seil hängend, in Rotation versetzt. Dabei rotiert das Wasser zunächst nicht mit dem Eimer mit. Unverkennbar besteht zwischen Gefäß und Flüssigkeit eine Relativgeschwindigkeit, auf die das Wasser nicht reagiert. Der Eimer, als ein seine Gleichberechtigung beanspruchendes Bezugssystem, könnte beleidigt sein. Erst wenn die Flüssigkeit mit dem Eimer rotiert, ist die Wirkung einer Fliehkraft erkennbar, indem das Wasser an der Gefäßwand emporsteigt. Das Beispiel zeigt, daß die Relativbewegung des Wassers gegenüber dem Gefäß keine Ursache der Fliehkraft sein kann. Für Newton gilt das als Beweis der Existenz des absoluten Raumes und seiner Wirkung als bevorzugtes Bezugssystem.
Später (um 1850) wurde auch der "Foucault'sche Pendelversuch" im Newton'schen Sinne gedeutet: Ein schwingendes Pendel muß nach Newtons Auffassung seine Schwingungsebene im absoluten Raum beibehalten, wenn alle Störeinflüsse ausgeschlossen werden. Wenn man das Pendel am Nordpol aufstellt, bewegt sich die Erdkugel unter ihm fort, und der Beobachter auf der Erde stellt eine Drehung der Schwingungsebene des Pendels entgegen der Erdrotation fest. Wäre die Erde ein gleichberechtigtes Bezugssystem, dürfte sich die Schwingungsebene des Pendels nicht gegen die Erde drehen. Da sie sich aber dreht, und das ist auch in unseren Breitengraden nachweisbar, "beweist" sie die absolute Rotation der Erde gegenüber dem absoluten Raum als dem bevorzugten Bezugssystem.
1675 veröffentlichte Newton seine "Emissionstheorie des Lichtes". Danach ist das Licht ein Strom sehr kleiner, von der Lichtquelle emittierter Teilchen. Newton sah keinen Zusammenhang zwischen den Lichtteilchen und der Gravitation. So war sein Raum, ganz nach Bedarf, mit stofflichen Lichtteilchen angefüllt oder stofflich leer. Wegen der Autorität Newtons waren seine Vorstellungen über den absoluten Raum und die Emissionstheorie im 18. Jahrhundert vorherrschend, wurden aber um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt.
Augustin Jean Fresnel (1788-1827) führte zur Erklärung der Welleneigenschaften des Lichtes wieder den Äther ein. Er erklärt das Licht als eine wellenförmige Schwingung des elastischen Äthers (4.10.3).
Ernst Mach (1838-1916) geht davon aus, daß angesichts der allgemeinen Dynamik des Weltalls nur relative Orte und Bewegungen physikalisch feststellbar und wirklich sein können. Darum könnten Newtons angebliche Beweise für die Existenz des absoluten Raumes nur "Scheinbeweise" sein. Die Ursache der Fliehkräfte ist nach Newton der absolute Raum, nach Mach sind es die "fernen Massen", die sich zwar zueinander bewegen, die aber in einer "Momentaufnahme" als markante Punkte des Weltalls aufzufassen sind und durch ihre "Massenanziehungskraft" im stofflich leeren Raum bei gleichfalls mystischer Fernwirkung ein großräumiges Wirkungsfeld "aufspannen". Ernst Mach ist mit diesem Gedankengang ein Wegbereiter der allgemeinen Relativitätstheorie, die lediglich mit dem Feldbegriff die Fernwirkung der Massen zu einer Nahwirkung macht.
"Was tritt an die Stelle der Begriffe vom absoluten Raum und von der absoluten Zeit, ohne die nach den Newtonschen Prinzipien schon die einfachsten Tatsachen, wie das Verhalten des Foucaultschen Pendels, die Trägheits- und Fliehkräfte und dergleichen nicht erklärt werden können? An die Stelle des absoluten Raumes als fiktiver Ursache von physikalischen Vorgängen haben jetzt ferne Massen als wirkliche Ursachen zu treten. Der Kosmos als ganzer, das Heer der Gestirne, erzeugt an jeder Stelle und zu jeder Zeit ein bestimmtes metrisches Feld oder Gravitationsfeld. Wie dieses im Großen beschaffen ist, kann nur eine Spekulation kosmologischer Art lehren. Im Kleinen aber muß bei geeigneter Wahl des Bezugssystems das metrische Feld "euklidisch" sein, d.h. die Trägheitsbahnen und Lichtstrahlen sind gerade Weltlinien. Man muß immer daran denken, daß die Schwingungsebene des Foucaultschen Pendels nicht gegen den absoluten Raum, sondern gegen das System der fernen Massen feststeht, daß die Fliehkräfte nicht bei absoluten Rotationen, sondern bei Rotationen gegen die fernen Massen auftreten." <12>
Zu Machs Zeiten, als das "Feld" noch nicht seine heutige Deutung und Selbständigkeit erlangt hatte, faßte man den Einfluß der fernen Massen noch als unvermittelte Fernwirkung auf. Doch die als Massenanziehung gedeutete Fernwirkung der fernen Massen ist nicht weniger mystisch als die Wirkung des Newton'schen leeren Raumes. Wo liegt da eigentlich ein Unterschied? Gegenüber der Newton'schen Behauptung vom absoluten Raum haben wir qualitativ nicht mehr "gewonnen", als daß sich nun die "Eckpunkte" des Raumes fast unmerklich im Weltall bewegen.
So lebten zwei prinzipiell unversöhnliche Grundauffassungen über einen längeren Zeitraum relativ friedlich nebeneinander und fanden doch nicht zueinander: Die Äthertheorie, die den Raum als stofferfüllt annahm und die Gravitationstheorie, für die der Raum stofflich leer war.
Der diesbezügliche Meinungsstreit mancher Wissenschaftler war dadurch gekennzeichnet, daß jeder die Welt nach seiner Modellvorstellung, die er aber nicht als solche ansah, eingerichtet wissen wollte.
Die Anhänger der Äthertheorie schritten von Erfolg zu Erfolg bei der Deutung und Nutzung der elektromagnetischen Erscheinungen. Zur Erklärung der Gravitation wußten sie jedoch mit ihrem ruhenden, passiven, widersprüchlichen Medium (4.13) nichts anzufangen, so daß am Ende des 19. Jahrhunderts Heinrich Hertz nur die Hoffnung aussprechen konnte, daß der Äther auch "das Wesen der Materie selbst und ihrer innersten Eigenschaften, der Schwere und Trägheit", offenbaren werde (4.12.2).
Es sei an dieser Stelle nochmals bemerkt: Die "latente Materie" unterscheided sich vom "Äther" prinzipiell dadurch, daß der "Äther" im absoluten Raum ruhen sollte, die "latente Materie" aber durch ihre Dynamik und Wechselwirkungen ursächlich und sekundär an jeglichem Naturgeschehen beteiligt ist.
Einstein "beseitigt" zu Beginn des 20. Jahrhunderts den "Äther" und verwendet später die Mach'sche Idee von der Wirkung der fernen Massen als wesentliche Grundlage der Allgemeinen Relativitätstheorie. Mit der Verselbständigung des Feldbegriffes wurde aus der unvermittelten Fernwirkung der fernen Massen nun eine durch das Feld vermittelte Nahwirkung. Das "Feld" ist damit nur ein anderes Wort zur unerklärbaren Umschreibung bisher und weiterhin unerklärbarer Erscheinungen.
Einstein beruft sich auf Descartes: "Descartes argumentierte etwa so: Raum ist wesensgleich mit Ausdehnung. Ausdehnung aber ist an Körper gebunden. Also kein Raum ohne Körper, d.h. kein leerer Raum. Wir werden sehen, daß die Allgemeine Relativitätstheorie Descartes' Auffassung auf einem Umwege bestätigt. Einen leeren Raum, d.h. einen Raum ohne Feld gibt es nicht. Descartes hatte demnach nicht so unrecht, wenn er die Existenz eines leeren Raumes ausschließen zu müssen glaubte. Erst die Idee des Feldes... in Verbindung mit dem allgemeinen Relativitätsprinzip zeigt den wahren Kern von Descartes Idee: es gibt keinen "feldleeren" Raum." <20>
Das ist verfälschender und verwischender Mißbrauch von Autoritäten! So hatte Descartes es nicht gemeint! Descartes meinte, daß es keinen stofflich leeren Raum geben kann. Im Einsteinschen Sinne ist das Feld aber eine stofflose Materie. Das ist ein gewaltiger Unterschied!
Trotz "Allgemeiner Relativitätstheorie'' ist das wahre Wesen der Gravitation, der elektromagnetischen Erscheinungen, der Trägheit weiterhin ungeklärt. Es bleibt unverständlich, was die "fernen Massen" damit zu tun haben sollen, wenn in einem Omnibus während einer scharf gefahrenen Kurve die Insassen durcheinanderpurzeln. Um dies als "Wirkung der fernen Massen" zu berechnen, könnte man allerdings noch Generationen von Mathematikern intensiv, aber kaum sinnvoll, beschäftigen.
Bis zum heutigen Tage ist man gezwungen, diese Not zur Tugend zu machen. Daß die unerklärten Geheimnisse des Raumes das gesamte Naturgeschehen grundlegend bestimmen, ist eine unbestreitbare Tatsache. Man begnügt sich oft mit der Feststellung, die Naturgesetze sind durch den "Zustand des Raumes" begründet. Vorrangig sind es immer wieder die Erscheinungen der Trägheit, die uns veranlassen, einem "bestimmten" Raum dennoch eine gewisse Vorrangstellung einzuräumen. Woran liegt das?
Inhalt
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verstrickt sich in den "Newton'schen Grundsätzen"
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"lnertialsystem" und die Ursache der Trägheit